Montag, 24. September 2012

Phänomenologie des Wassers I (Ausschnitt), 2012


Der Boden und die Dinge 
Dinge können uns auf der Erde begegnen, aber auch beim Tauchen unter Wasser oder sicherlich auch im Weltraum. Unsere Beschreibung bezieht sich nicht nur auf die Dinge, die sich auf einem Erdboden befinden. Dennoch ist es so, daß die erdrückende Mehrzahl von Dingen, mit denen wir es zu tun haben, uns in der Tat auf dem Erdboden begegnet. Für diese Dinge gelten einige Besonderheiten, die für Dinge im Weltall oder unter Wasser nicht gelten. Irdische Dinge haben stets eine Beziehung zum Boden, sie sind immer geerdet, auch dann, wenn sie gerade zufällig durch die Luft fliegen. Diese Beziehung zum Boden gehört mit zu ihrem Erscheinen: im Erscheinen der irdischen Dinge erscheint immer auch der Boden und die Beziehung, in der das Ding zu ihm steht. Es sind sehr vielfältige Beziehungen möglich, in denen das Ding zum Boden stehen kann. Ein Stein kann einfach auf dem Boden liegen, er kann aber auch auf dem Boden stehen, er kann vom Boden aufragen, er kann in den Boden eingesunken sein, vom Boden fast "verschluckt werden" usw. 

Der Boden polarisiert die Dinge: das meiste, was sich auf der Erde befindet, hat eine Oberseite und eine Unterseite. Je nachdem, wie die Dinge geformt sind, werden sie gewisse bevorzugte Lagen auf dem Boden einnehmen, andere Lagen werden instabil aussehen. Besonders komplex sind die Beziehungen lebendiger Dinge zum Boden: ein Baum kann im Boden wurzeln, und dieses wieder auf verschiedene Weise, Tiere haben eigene Organe, die für den Bodenkontakt bestimmt sind, die Pfoten, Krallen, Tatzen, Füße usw. Auch der Mensch hat solche Organe: die Knie, das Gesäß und die Füße. Bekanntlich ist es nicht so leicht, sich dieser Organe zweckentsprechend zu bedienen, das Kind muß erst lernen, sich auf Knie und Hände aufzustützen, dann lernt es den Gebrauch des Gesäßes, und schließlich und endlich kann es auf den Füßen stehen. Deraufrechte Stand ist eine recht fragile Angelegenheit, auf einer so kleinen Standfläche zu stehen, erfordert dauerndes Ausbalancieren der Gewichte; leicht zerfällt diese schwierige Form des Bodenkontaktes, man fällt hin. 

Der Stand ist eine Leistung, wie Buytendijk oft betont hat,135 nicht etwa ein Ruhen zwischen zwei Bewegungen. Diese Leistung erbringen wir nicht durch intellektuelle Berechnungen der statischen Verhältnisse, sondern intuitiv, wir spüren es, wenn wir die Balance verlieren, und wissen auch sofort um die richtige Ausgleichsbewegung. Der Boden ist nicht nur eine Präsentationsfläche, von der sich das Ding absetzt, sondern er ist zugleich die Verbindung zwischen mir und dem Ding. Über den Boden komme ich in der Regel an das Ding heran, beziehungsweise das Ding an mich, falls es sich um eine Lawine handelt. Ich benutze den Boden als verläßlichen Widerstand, wenn ich ein Ding bearbeite. Der Boden ist wie ein Mitarbeiter, in dessen Hand ich Dinge lege, an denen ich sägen oder hämmern will. Er gibt nicht nach, er ist beharrlich und verläßlich. Auf dem Boden können wir Dinge abstellen, sie bleiben stehen -- solange sie nicht gestohlen werden -- der Boden hält sie wie ein stummer Diener. Die Dinge sind anders, wenn sie nicht auf dem Erdboden stehen. Das merken wir, wenn wir den Erdboden mit dem korrupten Bodensurrogat eines Schiffsbodens in einem Ruderboot vertauschen. Man versuche einmal, in einem Ruderboot eine ganz einfache handwerkliche Tätigkeit auszuüben, etwa einen Nagel einzuschlagen oder ein Brett zu zersägen. Nagel und Brett werden tückisch, sie sind nicht mehr richtig zu greifen, sowie sie sich nicht mehr auf einem richtigen Boden befinden. Sie schlingern und verlieren jene Festigkeit, die sie an Land noch hatten. Wir bekommen sie nicht mehr richtig zu fassen, wir kommen nicht mehr richtig mit ihnen zurecht, sobald wir nicht mehr die Unterstützung des Erdbodens haben. 

Wenn wir auf dem Wasser mit den Dingen umgehen müssen, fühlen wir uns inkompetent und hilflos. Erst wenn uns der Boden unter den Füßen entzogen ist, merken wir, wie hilfreich er bei unseren alltäglichen praktischen Tätigkeiten ist. 136 Auf dem Wasser oder unter Wasser kann man sich zwar gut fortbewegen, aber es ist dort kaum möglich, etwas zu mechanisch bearbeiten, oder auch nur eine so einfache praktische Tätigkeit wie das Sammeln zu vollziehen. Das Wasser ist eigenwillig, es ist dauernd in Bewegung, es trägt hinweg, was man darin ablegt. Der Boden dagegen, so wie wir ihn meistens kennen, ruht. Er ist unbeweglich. Diese absolute Ruhe ist sein wesentliches Charakteristikum. Die Dinge kullern, rollen oder wandern auf ihm herum, er selbst wandert nicht. Den Boden unter den Füßen zu verlieren, ist mit einer eigenartigen Kraftlosigkeit verbunden, ein Gefühl der Ohnmacht stellt sich ein. Im Wasser haben wir kaum noch Möglichkeiten, unsere Kraft durch Hebelwirkung zu potenzieren. Die Sage von Antäus, der unbesiegbar war, solange er nur auf dem Boden stand, aber kraftlos, sowie seine Füße nicht mehr den Boden berührten, hat in solchen Erfahrungen einige "Wurzeln". 

Der Boden bringt dauernd neue Dinge hervor: aus ihm wachsen Pflanzen, einzelne Steine spalten sich ab von ihm. Gleichzeitig ist der Boden so etwas wie das Grab der Dinge. Es gibt zwar auch Dinge, die sich in Luft auflösen, oder Dinge, die in anderen Dingen verschwinden. Aber das gewöhnliche Ende der Dinge ist, daß sie irgendwann zerstört am Boden liegen, gebrochen in eine Grube rollen. Der Boden ist etwas wie ein Fixpunkt aller Dinge, die Dinge haben die Neigung, möglichst nahe an ihm dran zu sein, ihn möglichst großflächig zu berühren. Ein Ding kommt nicht zur Ruhe, solange es nicht den tiefsten Punkt des Bodens erreicht hat, und mit der Zeit versinkt es darin und löst sich auf. Das scheint eine natürliche Tendenz aller Dinge zu sein. Dieses blinde Suchen nach dem Boden ist in allen Dingen.137 So kommt es, daß der Boden so etwas wie ein großer Friedhof ist, in dem sich überall Spuren und Reste, Bruchstücke von Dingen finden. Pflanzenteile können darin verborgen sein, Schneckenhäuser, Scherben, Knochen, vielleicht auch Schätze, Mineralien, Gold, alte Waffen. Wie ein Buch Seiten hat, so hat der Boden Schichten, die ein Archäologe oder ein Geophysiker aufdecken kann, um in ihnen zu lesen. Einige Züge, die wir für Dinge herausgestellt haben, sind auch für den Boden cha-rakteristisch: er hat eine Oberfläche, die eine epistemisch aufgeladene Tiefe verbirgt, er beharrt, und weiter ist er natürlich stofflich. Dennoch ist der Boden phänomenal kein Ding, auch kein Superding und auch nicht die Oberfläche eines sehr großen Dinges. Er ist, wie der Himmel, ein Gegenstand ganz eigener Art. 

Jens Soentgen, 1996, Das Unscheinbare
Video: Mario Rott
Sound: Der Schwimmer   http://www.schwimmer.at/

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