Dienstag, 25. September 2012

Dr. Anna Gislen und die Moken.

 

Die Welt der Moken
Vor der Küste Thailands und Burmas lebt ein uraltes Volk von Seenomaden. Vermutlich siedelte es sich schon dort an, als das Meer noch nicht so weit vorgedrungen war und die küstennahen Inseln noch zum Festland gehörten. Das war vor der letzten Eiszeit. Dann stieg der Meeresspiegel, aber die Menschen blieben. Sie gewöhnten sich an das Leben auf dem Wasser. Mit ihren traditionellen Hausbooten fahren sie noch heute an den Küsten entlang und leben vom Fischfang – von dem, was das Meer ihnen gibt.

Mit offenen Augen im Salzwasser
Ein ganzer Hausstand auf dem Wasser: die Moken
Jeden Tag geht es raus aufs Meer. Die ganze Familie fährt mit, um für das tägliche Essen zu sorgen. Das ist mit der alten, traditionellen Speermethode, an der die Moken festhalten, eine mühsame Sache, denn jeder Fisch muss einzeln gejagt werden. Netze kommen nicht in Frage. Die Moken-Kinder können oft besser tauchen als laufen, und es ist nicht nur Spielerei, wenn sie auch schon auf die Jagd gehen. Sie ahmen die Erwachsenen nach, suchen Muscheln und Seegurken und ergattern hin und wieder mal einen Fisch. Allerdings: Im Gegensatz zu den Erwachsenen, die sich in der modernen Zeit mit Taucherbrillen ausrüsten, bewegen sich die Kleinen unter Wasser ganz ohne Hilfsmittel. Und trotzdem finden sie sich im salzigen Meerwasser zurecht.
An anderen asiatischen Seenomaden war diese besondere Sehfähigkeit schon entdeckt worden. , per Zufall. Eine schwedische Forscherin, die eigentlich den Tauchreflex untersuchen wollte, bekam damals von den Nomaden-Kindern kleine Geschenke, die diese von ihren Tauchgängen mitbrachten. Sie hielt sie zunächst für Steine. Doch bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es hübsche kleine Muscheln waren - mit bloßen Augen hatten die Kinder unter Wasser die winzigen Strukturen auf der Muschelschale erkannt.

Sehtest unter Wasser
Die Moken-Kinder tauchen immer mit offenen Augen
Zurück in Schweden, erzählte die Forscherin ihrer Kollegin Anna Gislén von ihrer merkwürdigen Beobachtung. Anna Gislén wollte es genauer wissen: Wie gut können die Kinder der Seenomaden unter Wasser wirklich sehen? Gislén wählte für ihre Versuche das Volk der Moken. Sie machte Sehtests mit den Mokenkindern. Dazu benutzte sie große Scheiben mit feinen Linien, die entweder waagerecht oder senkrecht verlaufen. Ein Gestell im flachen Wasser hielt die Scheiben unter Wasser 50 Zentimeter von den Augen der Kinder entfernt. Die Kinder mussten dann angeben, in welcher Richtung sie einen Verlauf der Streifen erkennen konnten, und ob sie überhaupt noch Linien sahen. Dann zeigte Gislén ihnen immer feinere Linienmuster, bis die Kinder nichts mehr erkennen konnten. So legte sie die Sehschärfe fest.

Viel besser als Europäer
Anna Gislén sah den Kindern mit ihrer Unterwasser-Kamera genau in die Augen
Die Forscherin verglich die Werte mit denen schwedischer Kinder. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Die Moken-Kinder können deutlich besser sehen als die europäischen. Sie konnten noch Linien unterscheiden, die nur 1,5 Millimeter auseinander lagen – die europäischen Kinder schafften nur 3 Millimeter. Anna glaubte zunächst, es gäbe genetische Unterschiede zwischen den Moken und den Europäern. Im Laufe der Jahrtausende hätte sich ja eine besondere Anatomie des Auges herausbilden können. Doch je genauer sie den Kindern in die Augen sah, desto weniger Ungewöhnliches fand sie. Die Augen der Moken sind genauso konstruiert wie die europäischer Menschen, und an Land unterscheidet sich ihre Sehfähigkeit überhaupt nicht.

Die Pupillen verraten das Geheimnis
Die Moken-Kinder können ihre Pupillen extrem verkleinern
Die Erklärung fand sie erst bei genauen Messungen mit einer Infrarotkamera unter Wasser: Die Moken-Kinder ziehen ihre Pupillen unter Wasser wesentlich enger zusammen als die weißen Kinder. Das allein schon verbessert die Sehschärfe – aber es ist auch ein Indiz dafür, dass sie ihre Linse von einer flachen Form zu einer kugeligeren Form zusammendrücken: Fachleute nennen das Akkomodieren. Diese Anpassung vollzieht sich normalerweise automatisch, wenn man das Auge auf einen nahen Gegenstand richtet und es dabei unbewusst scharf stellt. Doch die Mokenkinder verformen ihre Linse dabei bis an die Grenzen des anatomisch Möglichen: Sie akkomodieren so stark, dass sie dadurch einen Teil der Unterwasser-Weitsichtigkeit ausgleichen können. Ist es das tägliche Training, das die Kinder zu dieser Leistung befähigt? Vielleicht ist diese Anpassungsfähigkeit der Augen sogar eine Nebenwirkung des Tauchreflexes, vermutet Gislén. Dann wäre prinzipiell jeder Mensch dazu in der Lage, seine Augen so zu schärfen.

Der Versuch: Scharf sehen durch Training
Gislén begann eine neue Studie: Sie trainierte vier schwedische Mädchen in einem Hallenbad in ihrer Heimatstadt Lund. Der Versuchsaufbau war derselbe wie mit den Mokenkindern: Die Kinder schauten unter Wasser auf die Scheiben mit den Streifenmustern. 33 Tage lang dauerte das Training, jeden dritten Tag bestellte Gislén ihre vier Kandidatinnen ins Hallenbad. Am letzten Tag dann das Ergebnis: Die Sehschärfe unter Wasser hatte sich um 27 Prozent verbessert. Die Kinder hatten gelernt, ihre Pupillen unter Wasser zu verengen und dabei stark zu akkomodieren.

Auch eine Möglichkeit für Erwachsene?
Als Gislén die Kinder vier Monate später erneut untersuchte, erlebte sie die nächste Überraschung: Die Kinder hatten sich weiter verbessert, obwohl sie in der Zwischenzeit nicht geübt hatten! Im Sommer testete Gislén die Mädchen wieder: diesmal im prallen Sonnenlicht, unter ähnlichen Bedingungen wie damals die Mokenkinder – und jetzt konnten die schwedischen Mädchen unter Wasser genauso gut sehen wie die Kinder der Seenomaden. Kinder können durch Training also lernen, unter Wasser schärfer zu sehen – aber ob das auch für Erwachsene gilt, hat Gislén nicht untersucht. Im Erwachsenenalter wird die Augenlinse steifer; deshalb können Erwachsene nicht so gut akkomodieren wie Kinder. Und sogar die Moken tauchen als Erwachsene nur noch mit Taucherbrille.

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