Die
Welt der Moken
Vor der Küste Thailands und Burmas
lebt ein uraltes Volk von Seenomaden. Vermutlich siedelte es sich schon dort
an, als das Meer noch nicht so weit vorgedrungen war und die küstennahen Inseln
noch zum Festland gehörten. Das war vor der letzten Eiszeit. Dann stieg der
Meeresspiegel, aber die Menschen blieben. Sie gewöhnten sich an das Leben auf
dem Wasser. Mit ihren traditionellen Hausbooten fahren sie noch heute an den
Küsten entlang und leben vom Fischfang – von dem, was das Meer ihnen gibt.
Mit
offenen Augen im Salzwasser
Jeden Tag geht es raus aufs Meer.
Die ganze Familie fährt mit, um für das tägliche Essen zu sorgen. Das ist mit
der alten, traditionellen Speermethode, an der die Moken festhalten, eine
mühsame Sache, denn jeder Fisch muss einzeln gejagt werden. Netze kommen nicht
in Frage. Die Moken-Kinder können oft besser tauchen als laufen, und es ist
nicht nur Spielerei, wenn sie auch schon auf die Jagd gehen. Sie ahmen die
Erwachsenen nach, suchen Muscheln und Seegurken und ergattern hin und wieder
mal einen Fisch. Allerdings: Im Gegensatz zu den Erwachsenen, die sich in der
modernen Zeit mit Taucherbrillen ausrüsten, bewegen sich die Kleinen unter
Wasser ganz ohne Hilfsmittel. Und trotzdem finden sie sich im salzigen
Meerwasser zurecht.
An anderen asiatischen Seenomaden
war diese besondere Sehfähigkeit schon entdeckt worden. , per Zufall. Eine
schwedische Forscherin, die eigentlich den Tauchreflex untersuchen wollte,
bekam damals von den Nomaden-Kindern kleine Geschenke, die diese von ihren
Tauchgängen mitbrachten. Sie hielt sie zunächst für Steine. Doch bei näherem
Hinsehen stellte sich heraus, dass es hübsche kleine Muscheln waren - mit
bloßen Augen hatten die Kinder unter Wasser die winzigen Strukturen auf der
Muschelschale erkannt.
Sehtest
unter Wasser
Zurück in Schweden, erzählte die
Forscherin ihrer Kollegin Anna Gislén von ihrer merkwürdigen Beobachtung. Anna
Gislén wollte es genauer wissen: Wie gut können die Kinder der Seenomaden unter
Wasser wirklich sehen? Gislén wählte für ihre Versuche das Volk der Moken. Sie
machte Sehtests mit den Mokenkindern. Dazu benutzte sie große Scheiben mit
feinen Linien, die entweder waagerecht oder senkrecht verlaufen. Ein Gestell im
flachen Wasser hielt die Scheiben unter Wasser 50 Zentimeter von den Augen der
Kinder entfernt. Die Kinder mussten dann angeben, in welcher Richtung sie einen
Verlauf der Streifen erkennen konnten, und ob sie überhaupt noch Linien sahen.
Dann zeigte Gislén ihnen immer feinere Linienmuster, bis die Kinder nichts mehr
erkennen konnten. So legte sie die Sehschärfe fest.
Viel
besser als Europäer
Die Forscherin verglich die Werte
mit denen schwedischer Kinder. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Die
Moken-Kinder können deutlich besser sehen als die europäischen. Sie konnten
noch Linien unterscheiden, die nur 1,5 Millimeter auseinander lagen – die
europäischen Kinder schafften nur 3 Millimeter. Anna glaubte zunächst, es gäbe
genetische Unterschiede zwischen den Moken und den Europäern. Im Laufe der
Jahrtausende hätte sich ja eine besondere Anatomie des Auges herausbilden
können. Doch je genauer sie den Kindern in die Augen sah, desto weniger Ungewöhnliches
fand sie. Die Augen der Moken sind genauso konstruiert wie die europäischer
Menschen, und an Land unterscheidet sich ihre Sehfähigkeit überhaupt nicht.
Die
Pupillen verraten das Geheimnis
Die Erklärung fand sie erst bei
genauen Messungen mit einer Infrarotkamera unter Wasser: Die Moken-Kinder
ziehen ihre Pupillen unter Wasser wesentlich enger zusammen als die weißen
Kinder. Das allein schon verbessert die Sehschärfe – aber es ist auch ein Indiz
dafür, dass sie ihre Linse von einer flachen Form zu einer kugeligeren Form
zusammendrücken: Fachleute nennen das Akkomodieren. Diese Anpassung vollzieht
sich normalerweise automatisch, wenn man das Auge auf einen nahen Gegenstand
richtet und es dabei unbewusst scharf stellt. Doch die Mokenkinder verformen
ihre Linse dabei bis an die Grenzen des anatomisch Möglichen: Sie akkomodieren
so stark, dass sie dadurch einen Teil der Unterwasser-Weitsichtigkeit
ausgleichen können. Ist es das tägliche Training, das die Kinder zu dieser
Leistung befähigt? Vielleicht ist diese Anpassungsfähigkeit der Augen sogar
eine Nebenwirkung des Tauchreflexes, vermutet Gislén. Dann wäre prinzipiell
jeder Mensch dazu in der Lage, seine Augen so zu schärfen.
Der
Versuch: Scharf sehen durch Training
Gislén begann eine neue Studie: Sie
trainierte vier schwedische Mädchen in einem Hallenbad in ihrer Heimatstadt
Lund. Der Versuchsaufbau war derselbe wie mit den Mokenkindern: Die Kinder
schauten unter Wasser auf die Scheiben mit den Streifenmustern. 33 Tage lang
dauerte das Training, jeden dritten Tag bestellte Gislén ihre vier Kandidatinnen
ins Hallenbad. Am letzten Tag dann das Ergebnis: Die Sehschärfe unter Wasser
hatte sich um 27 Prozent verbessert. Die Kinder hatten gelernt, ihre Pupillen
unter Wasser zu verengen und dabei stark zu akkomodieren.
Auch
eine Möglichkeit für Erwachsene?
Als Gislén die Kinder vier Monate
später erneut untersuchte, erlebte sie die nächste Überraschung: Die Kinder
hatten sich weiter verbessert, obwohl sie in der Zwischenzeit nicht geübt
hatten! Im Sommer testete Gislén die Mädchen wieder: diesmal im prallen
Sonnenlicht, unter ähnlichen Bedingungen wie damals die Mokenkinder – und jetzt
konnten die schwedischen Mädchen unter Wasser genauso gut sehen wie die Kinder
der Seenomaden. Kinder können durch Training also lernen, unter Wasser schärfer
zu sehen – aber ob das auch für Erwachsene gilt, hat Gislén nicht untersucht.
Im Erwachsenenalter wird die Augenlinse steifer; deshalb können Erwachsene
nicht so gut akkomodieren wie Kinder. Und sogar die Moken tauchen als
Erwachsene nur noch mit Taucherbrille.
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